Saarhundert und Maas

Zur Jubiläumsveranstaltung „Saarhundert“ in Saarbrücken Heiko Maas: Dass die Saarländerinnen und Saarländer ihr Schicksal demokratisch in die eigene Hand nehmen konnten, das war ein Novum in der ganzen Weltgeschichte zum damaligen Zeitpunkt.

 

Es ist vermutlich nicht allein meine saarländische Herkunft, die mir die Ehre verschafft, und so verstehe ich das, heute hier sprechen zu dürfen.

Sondern das hat wohl auch was mit der Tatsache zu tun, dass das Saarland – beziehungsweise das Saargebiet, wie es ja mal hieß – vor hundert Jahren in meine heutige Zuständigkeit als Außenminister gefallen wäre. Hunderte von Aktenbänden im Auswärtigen Amt, wir haben das noch einmal in Augenschein genommen, zeugen davon, dass das Saarland über Jahrzehnte in diesen 100 Jahren ein Fall für die internationale Diplomatie gewesen ist.

Es gibt noch einen anderen, etwas spezielleren saarländischen Zusammenhang mit dem Auswärtigen Amt. Wer das Auswärtige Amt am Werderschen Markt in Berlin kennt, der weiß: Es liegt in Ostberlin und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt als das Gebäude des Hauptquartiers der SED. Das Politbüro der SED hatte dort seinen Sitz. Ich sitze heute in dem Büro, in dem Erich Honecker saß. Ich wollte nicht, dass Erich Honecker der letzte Saarländer dort war. Ich weiß nicht, ob ich so lange in dem Büro sitzen werde, wie er dort gewesen ist, aber auch das werden wir sehen.

Obwohl die Versuchung groß wäre. Ehrlich gesagt, will ich heute Abend einmal nicht über die große Weltpolitik reden, auch nicht über die Krisen, die uns gerade im Moment Tag und Nacht beschäftigen. Dabei gäbe es wirklich einiges zu erzählen aus den letzten vier Tagen. Ich komme gerade aus Brüssel, ich muss heute Abend weiterfliegen nach Berlin, ich bin morgen in Moskau, am Sonntag in Paris, am Montag in Jordanien und wo ich am Dienstag bin, weiß ich noch nicht. Ich will es, ehrlich gesagt, auch gar nicht wissen.

Als mich vor einiger Zeit ein Journalist in Berlin gefragt hat: „Wo fliegen Sie eigentlich am liebsten hin?“, sagte ich ihm: „Hemm“. Das verstand er nicht. Da habe ich es ihm erklärt und er hat es dann auch verstanden. „Hemm“, das ist für mich hier, und deshalb, lieber Tobias, nochmals vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich wirklich sehr darüber, einen Teil beitragen zu können, wenn wir hier das feiern, was in den letzten 100 Jahren in diesem Land entstanden ist. Und ich finde, das ist viel.

Ich will gar keinen historischen, chronologischen, soziologischen oder was auch immer für einen Vortrag halten. Ich würde gerne mit einer Geschichte beginnen, die relativ klein ist, die aber, wie ich finde, sehr typisch saarländisch ist. Eine Geschichte, die zeigt, was hier im Saarland eigentlich jedes Kind weiß, nämlich: „Großes entsteht immer im Kleinen.“

Es war im Jahr 2004, als sich die Nachbarvereine der Fußballclubs FC Habkirchen und der US Frauenberg zusammenschlossen – was schon mal vorkommt, wenn eine Mannschaft nicht mehr genügend Spieler zusammenbringt. Viele, die ehrenamtlich im Sport aktiv sind, wissen das. Aber bei dieser Spielgemeinschaft, die sich dort gebildet hat, waren das nicht nur zwei eng aneinander liegende Gemeinden, die sich zusammengefunden hatten. Sondern diese Spielgemeinschaft war eine grenzüberschreitende, über nationale Grenzen hinweg. Das hat dazu geführt, dass sich mit diesem Alleinstellungsmerkmal dann der DFB beschäftigen musste und die Politik, weil keiner so recht wusste, in welche Liga und nach welchen Regeln ein deutsch-französischer Fußballverein einzuordnen war.

Dass das Pilotprojekt dann irgendwann nicht fortgeführt wurde, ist, glaube ich, dabei gar nicht entscheidend. Ich mag diese Geschichte trotzdem, weil an ihr gleich mehrere Dinge typisch saarländisch sind:

  • Erstens, der Pragmatismus der Saarländerinnen und Saarländer. Es ist allemal besser, Kräfte zu bündeln, bevor keiner mehr erfolgreich sein kann.
  • Zweitens, der Mut, etwas Neues auszuprobieren, auch jenseits bestehender Strukturen.
  • Und drittens, das Bewusstsein, dass Grenzen menschengemacht sind, und deshalb auch von Menschen überwunden werden können.

Diese Erfahrungen sind ein Spiegel der ganzen saarländischen Geschichte. Denn das Saarland war immer wieder ein Experimentierfeld auch für die heute so viel diskutierte multilaterale Ordnung. Noch in den Kinderschuhen war das Saargebiet in seinen ersten 15 Jahren dem Völkerbund unterstellt.

Danach, so hatte es der Versailler Vertrag festgelegt, sollten die Bürgerinnen und Bürger selbst über die Zugehörigkeit des Landes entscheiden.

Dass die Saarländerinnen und Saarländer ihr Schicksal demokratisch in die eigene Hand nehmen konnten, das war ein Novum in der ganzen Weltgeschichte zum damaligen Zeitpunkt. Und auch dieser Sonderstatus gab den Menschen, die vorher in der preußischen oder bayerischen Provinz lebten, eine gemeinsame Identität, wie das Tobias Hans schon angesprochen hat. Er machte sie zu Saarländerinnen und Saarländern. Gleichzeitig wuchs der Wunsch nach Selbstbestimmung. Was den Menschen unter der internationalen Völkerbundsverwaltung verwehrt blieb – nämlich Partizipation – suchten sie in Vereinen, Parteien und Gewerkschaften.

Man ist sich nah gewesen in dieser Zeit, weil man nicht wusste, zu wem man nach außen eigentlich gerade gehörte. Deshalb hat man sich nach innen orientiert und das hat diese spezielle Identität wachsen lassen. Man ist sich nah gewesen – räumlich, aber vor allen Dingen menschlich. Und das ist bis heute so.

Überhaupt ist das, was da entstanden ist – und was sicherlich auch mit der Industrialisierung in diesem Land zu tun hatte –, überhaupt ist das Miteinander im Saarland ein wichtiger Faktor: Solidarität und Kameradschaft haben die Saarländerinnen und Saarländer aber nicht nur im Bergbau und am Hochofen gelebt.

Diese Erfahrung ist wichtig, wenn wir uns darüber Gedanken machen, wo sich eigentlich unsere heutige Gesellschaft hin entwickelt. Ich habe manchmal den Eindruck, wir leben heute in einer Gesellschaft, in der Menschen mehr Freunde auf Facebook haben als in der Nachbarschaft. Ich bin mir nicht so recht sicher, ob das eine gute Entwicklung ist. Bei allen Möglichkeiten, die die digitale Welt bietet, mache ich immer wieder die Erfahrung: Dort, wo es Ängste gibt, dort, wo die Populisten oder Nationalisten die Ängste von Menschen auch in der politischen Debatte für ihre Zwecke missbrauchen, hat das oft etwas damit zu tun, dass Angst aus Unwissenheit und Unkenntnis entsteht. Die einfachste Möglichkeit, diese Angst zu bekämpfen, besteht darin, Menschen zusammenzuführen. Ich weiß, dass es viele gibt, vor allen Dingen außerhalb des Saarlandes, die sich ein bisschen lustig über uns machen, weil es hier tausende Dorffeste gibt, Straßenfeste, Weiherfeste, Stadtfeste, alles Mögliche. Für Politikerinnen und Politiker hat das manchmal Probleme geschaffen, wenn man versuchen wollte, irgendwie überall dabei zu sein. Es gibt Leute, die verstehen das nicht. Aber das sind Orte und das sind Gelegenheiten, bei denen Menschen zusammenkommen. Und ich halte das für wichtig in einer Zeit, in der die Digitalisierung die Individualisierung immer weiter fördert und manchmal sogar ins Extreme treibt. Wenn ich mir anschaue, wie Menschen heute im Internet in den sogenannten sozialen Netzwerken miteinander umgehen, dann würde ich mir wünschen, dass sie sich, anstatt irgendetwas zu posten, sich vielleicht einmal auf einem Straßen-, einem Dorffest oder einem Stadtfest in die Augen schauen würden. Also manchmal wünsche ich mir in der heutigen Zeit, in der Gesellschaft, in der wir leben: weniger Facebook und mehr Saarland.

Zusammenhalt schafft Vertrauen, auch in schwierigen Zeiten, von denen gab es in den letzten 100 Jahren wirklich genug. Wie kaum ein anderes Land ist das Saarland vom Strukturwandel betroffen.

Aber: Wie in kaum einer anderen Region sind die Menschen bereit, sich den Herausforderungen zu stellen und sie vor allen Dingen gemeinsam anzupacken. Der saarländische Weg!  Ehrlich gesagt: Wer hat in einer solchen Zeit schon so viele Umbrüche – politisch wie wirtschaftlich – erlebt und gemeistert wie hier im Saarland?

Wenn Personaler heute – Neudeutsch gesprochen – nach „Transformationserfahrung“ suchen, kann ich ihnen sagen: Hier ist sie zuhause. Schließlich waren wir immer wieder darauf angewiesen, die hiesige Wirtschaft fit für die Zukunft zu machen. Und auch das hat Kämpfe und Auseinandersetzungen mit sich gebracht, aber letztlich auch Erfolge, die sich sehen lassen können – ohne dass man sich auf irgendetwas ausruhen kann. Denn wir wissen auch, dass die Herausforderungen, mit denen wir es gerade zu tun haben in diesem Industrieland, gewaltig sind. Gleichzeitig wissen wir als Grenzland aber auch nur zu gut, welchen Schaden zum Beispiel Protektionismus anrichten kann. Grenzen zu, Zölle hoch – wir wissen doch aus eigener historischer Erfahrung, dass das nicht funktioniert!

Die Zukunft des Saarlandes ist eng verknüpft mit dem europäischen Schicksal:

Das Saarland ist ein exportabhängiger Industriestandort. Deutschland ist ein exportabhängiges Industrieland. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass bei all den Diskussionen, die es zur Zeit international gibt, am Schluss nicht diejenigen gewinnen, die glauben, mit Protektionismus ihre Interessen durchzusetzen. Ich habe uns immer als einen Teil der freien Welt verstanden und freie Welt bedeutet: freier Handel und freie Märkte. Wenn es das nicht mehr gibt, dann wird die Wirtschaft in der Struktur, wie wir sie im Saarland haben, außerordentlich große Probleme bekommen und das müssen wir verhindern.

Das Saarland profitiert auch vom europäischen Binnenmarkt. Und der Strukturwandel kann nur gelingen bei all dem, was wir zurzeit an Herausforderungen vor uns haben, in einem offenen und einem sozialen Europa. Und da viel über Europa diskutiert wird: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle in Europa auch nur dann eine Perspektive haben, wenn wir mit der Zukunft vor allen Dingen eines tun – sie nämlich europäisch gestalten. Im Moment diskutieren viele darüber: Was ist der richtige Weg? Muss man sich wieder mehr national orientieren, nationale Entscheidungen treffen, um eigene Interessen durchzusetzen? Das kann man vielleicht in den USA, das kann man in Russland und in China tun. Wenn das jeder in Europa anfängt, dann werden wir alle verlieren. Paul-Henri Spaak, ein früherer belgischer Premierminister und einer der vergessenen Gründungsväter der EU, hat einmal gesagt: „Es gibt in Europa nur zwei Arten von Ländern – kleine Länder und Länder, die noch nicht gemerkt haben, dass sie klein sind.“ Und das ist so.

Die vier großen internationalen Herausforderungen – der Klimawandel, die Globalisierung, die Digitalisierung, die Migration – all das sind sehr unterschiedliche Phänomene. Aber sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie kennen keine Grenzen. Sie sind alle auf die Überwindung von Grenzen angelegt. Deshalb kann keine vernünftige Alternative sein, sich zurückzubesinnen auf das Nationale, schon gar nicht in Europa. Sondern wir sind darauf angewiesen, dass wir die Herausforderungen, die wir haben, europäisch meistern. Sonst werden wir zum Objekt von anderen in der Weltpolitik. Und deshalb leben wir in einer Zeit, in der wir nicht weniger Europa brauchen, sondern wir brauchen mehr Europa!

All das steckt in der saarländischen DNA. Ich erlebe das nirgendwo so, wie das hier bei uns der Fall ist und ich komme wirklich rum. Meine Oma hat ihr Leben lang im gleichen Ort, in der gleichen Straße, im gleichen Haus gewohnt. In den letzten 100 Jahren hätte sie aufgrund der völkerrechtlichen Zuordnung des Saarlandes fünf verschiedene Pässe haben können, ohne den Wohnort zu wechseln. Nationalitäten haben manchmal auch etwas mit Zufälligkeiten zu tun. Javier Solana, der frühere Generalsekretär der Nato und spätere Generalsekretär der EU, dem ich diese Geschichte auch mal erzählt hatte, sagte mir: „Deine Oma ist Europa!“ Ich sagte ihm: „Mach langsam, Du hast meine Oma nicht kennengelernt!“ Aber der Ort, wo sie herkommt, wo ich herkomme und wo Sie alle herkommen, das empfinde ich schon als Europa.

„Meine Heimat ist Europa“, das ist ein doppeldeutiger Satz, da meine Heimat hier ist und ich hier mehr Europa verspüre als an jeder anderen Stelle in Deutschland. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal und ein Vorteil, den es in diesem Land gibt gegenüber anderen.

Das bringt mich zu einem anderen Punkt, der mir ganz besonders wichtig ist, wenn man solche Jubiläen feiert: 100 Jahre Geschichte. Ich bin 1966 geboren im Saarland. Alles, was mein Leben lebenswert macht, bekam ich in die Wiege gelegt. Ich musste mir nichts erkämpfen: Frieden, Freiheit, Rechtsstaat, relativer Wohlstand. Ich habe heute manchmal ein bisschen den Eindruck, dass das, was Generationen vor uns aufgebaut und erkämpft haben in diesen 100 Jahren – und zwar unter deutlich anderen Rahmenbedingungen als denen, in denen wir heute Politik machen –, dass das heute alles Selbstverständlichkeiten sind, weil Leute wie ich ja gar nichts anderes kennen. Dabei muss man in Zeiten wie diesen gar nicht weit in die Welt schweifen, sondern man kann sich auch in Europa umschauen und wird feststellen, dass all das, was in einer freien und liberalen Demokratie das Leben lebenswert macht, eben keine Selbstverständlichkeit ist, sondern bedroht wird von unterschiedlichen Seiten – nicht nur weit weg von Europa, sondern auch in Europa. Deshalb finde ich: Wir leben in Zeiten, in denen wir diese Werte nicht nur genießen sollten, sondern in denen wir viel mehr für sie einstehen sollten. Und auch das ist etwas, was im Saarland geschieht durch die Art und Weise, wie hier zusammengelebt wird, wie man Menschen mitnimmt – anders ist als in vielen anderen Regionen Deutschlands.

Ganz wichtig ist in der saarländischen Geschichte unser Verhältnis zu Frankreich gewesen. Deswegen freue ich mich sehr, dass die französische Botschafterin heute hier ist. Die Erfahrungen, die ich mache in der deutsch-französischen Zusammenarbeit, sind so intensiv, so eng, trotz aller Diskussionen, die es immer wieder gibt, wie das mit keinem anderen Land der Fall ist. Ich kenne auch keine zwei Staaten, die so eng miteinander zusammenarbeiten und kooperieren auf der ganzen Welt, wie es Deutschland und Frankreich tun. Dafür bin ich unfassbar dankbar.

Als ich in Saarbrücken angefangen habe zu studieren, hat der damalige Universitätsprofessor, Professor Meiser, bei der Eröffnungsveranstaltung im Audimax allen Studentinnen und Studenten gesagt: „Ihr könnt machen, was Ihr wollt, aber ich habe eine Erwartung an Euch, wenn Ihr in Saarbrücken studiert. Nehmt Euch einen Tag Zeit und fahrt alleine nach Verdun. Geht einen Tag über die Felder von Verdun und macht Euch Gedanken, was Krieg und Frieden bedeuten.“ Ich habe das damals getan und es gibt wenige Tage in meinem Leben, die mich so sehr beeindruckt und auch beeinflusst haben. Heute sind wir als Land an der Grenze zu Frankreich mit der Frankreich-Strategie ganz vorne dabei im Bundesvergleich. Wir haben vor einigen Monaten den Elysee-Vertrag weiterentwickelt durch den Aachener Vertrag. Er regelt die deutsch-französische Zusammenarbeit – im Übrigen nicht exklusiv, sondern inklusiv: Wir laden andere in Europa ein, diesen Weg mitzugehen. Dass ich diesen Vertrag, den wir mit den französischen Freundinnen und Freunden verhandelt haben, am Schluss zusammen mit Emmanuel Macron, der Bundeskanzlerin und meinem französischen Amtskollegen, Jean-Yves Le Drian, unterschreiben durfte, war sicherlich einer der schönsten Tage, die ich in der Politik erlebt habe. Ich weiß nicht, ob das noch zu toppen sein wird und ich finde es, ehrlich gesagt, gar nicht so schlecht, dass der Nachfolgevertrag des Elysee-Vertrags von einem Saarländer mit unterschrieben worden ist. Deshalb habe ich den Vertrag mitgenommen, habe ihn in einer Vitrine ausgestellt, unmittelbar vor meinem Büro und keiner kommt in mein Büro rein ohne das zu sehen.

Abschließend will ich deshalb sagen: Wenn uns das zurückliegende „Saarhundert“ etwas gezeigt hat, dann doch das – es ist eben kein Widerspruch Saarländer, Deutscher und Europäer zu sein. Sondern es ist ein großes, historisches Glück, dass man das alles zusammen sein kann. Und das wollen wir auch sein.

In diesem Sinne: Glück auf!

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